Wendepunkt in KI durch Corona?

In der Corona-Krise erfahren viele Einsatzfelder von künstlicher Intelligenz in allen Lebensbereichen einen enormen experimentellen Schub. Diese Erfahrungen werden die nachfolgende Entwicklung entscheidend beschleunigen. Jetzt sind die Führungskräfte in Deutschland und Europa gefordert.

Als in 2002 SARS ausbrach, brauchte es Monate bis das Genom des Virus sequenziert war. Der Corona-Virus, welcher Covid-19 auslöst, wurde im Shanghai Public Health Clinical Center vom Team um Professor Zhang Yongzhen hingegen bereits am 5. Januar 2020 isoliert und unter Zuhilfenahme von künstlicher Intelligenz (KI) sequenziert – zwei Tage bevor China offiziell die Existenz einer neuen Krankheit überhaupt bekannt gab. Am 11. Januar veröffentlichte das Team die Ergebnisse und stellte die Daten der weltweiten Forschergemeinschaft zur Verfügung.

Auch bei vielen anderen Aktivitäten zur Bewältigung der Corona-Krise in Wirtschaft und Gesundheit spielt KI eine wesentliche Rolle. Zwei Dinge werden dabei deutlich:

Keinem kann die enorme Leistungsfähigkeit und Notwendigkeit von KI entgehen und der Vorsprung Chinas in manchen Einsatzgebieten wird – für viele vielleicht erstmalig – direkt greifbar. Corona ist ein experimenteller KI-Supertest: Viele der großflächigen Einsätze von KI wären ohne Corona in diesem Umfang undenkbar gewesen. Andere, heute schon verbreitete KI-Anwendungen, durchlaufen mit Corona eine Art ‘Black-Swan’-Test. Nutzer lernen in beiden Fällen viel aus der Performance von KI. Obige Entwicklungen dürften die Entwicklung von KI im Nachgang zu Corona enorm beschleunigen.

Grob kann man die Erfahrungsfelder von KI in der Corona-Krise in drei Bereiche gliedern:

  • Entscheidende analytische Beschleunigung und Skalierung
  • Einsatzfelder, die von Menschen nicht mehr abgedeckt werden können
  • Anwendungen, für welche die außergewöhnlichen Ereignisse einen dynamischen ‘Black Swan’- Test darstellen.

Aus allen dreien ergeben sich offensichtliche Handlungsfelder für Unternehmen und staatliche Stellen, gerade in Deutschland und Europa.

Analytische Beschleunigung und Skalierung

China hat in den letzten Jahren enorm in KI investiert und ist inzwischen Weltmarktführer in deren Anwendung. Vor wenigen Woche beschrieb Baidu im MIT Technology Review, wie es selbst mithilfe von KI den Kampf gegen Corona unterstützte: Einsatz seines Linearfold-Algorithmus, um die Sekundärstruktur der Virus RNA in 27 Sekunden zu bestimmen; Infrarotsensoren, welche kontaktlos eine Multipersonen-Temperatur Kontrolle durchführen und am Bahnhof von Beijing zur Fiebermessung eingesetzt werden; das erste open-source Produkt, welches mit 97,27% Sicherheit sagen kann, ob in einer Menge alle ordnungsgemäß oronasale Masken tragen; über LinkingMed, welches die Baidu deep-learning Plattform ‘PaddlePaddle’ nutzt, Diagnose von Covid-19 über Brust-CTs Läsionen mit 92% Präzision (und Recall von 97%) im XiangNan Universitäts-Krankenhaus; Tracking der Personenbewegungen aus Wuhan heraus über Baidu Maps und mehr…

Natürlich ist Baidu damit nicht allein. Der Versicherungsriese Ping An betreibt die erfolgreichste AI-assistierte Telemedizin-Plattform ‘Good Doctor’ – mit 300 Millionen Nutzern Ende 2019. Sie bewältigte Ende Januar/Anfang Februar 1,11 Milliarden Anfragen. Während Good Doctor bisher einen starken Fokus auf die 24/7 Ausstellung von Wiederholungsrezepten mit 1h Zustellungszeit hatte, wurden regulatorischen Einschränkungen in der Krise aufgehoben und KI-gestützte Erstdiagnosen im Telebetrieb zugelassen.

Auch Alibaba hat nicht nur Millionen von Masken und Testkits in alle Welt gesandt, sondern ähnlich zu Baidu KI-basierte Methoden in Forschung, Test-Entwicklung (in seiner Damo Academy) und Patientenberatung eingesetzt. Tencent und viele kleinere chinesische Firmen, wie beispielsweise Infervision, haben in der Krise in ähnliche Weise KI-basiert geholfen.

Die großen KI-Firmen aus den USA melden sich ebenfalls mit Bewegungsanalysen und medizinischen Hilfen zu Wort, aber bisher mit einem unvergleichlich schwächerem Impact als die Chinesen. Aus Europa ist im bisherigen Management der Corona-Krise keine größere KI-basierte Initiative bekannt.

Der Jackpot ist natürlich die Entwicklung eines Corona-Impfstoffes, oder zumindest einer effektiven Behandlung. Hieran arbeiten nicht nur die medizinischen Top Labore und Tech-Firmen, sondern auch viele KI Start-ups. Diese sind globaler verteilt. So verweist IEEE Spectrum auf Dargen (Süd-Korea), Insilico Medicine (Hong-Kong), SRI BioSciences (Menlo Park) und Iktos (Paris), sowie BenevolentAI (UK). Sie setzen KI-basierte Screening- Methoden ein, um die vielversprechendsten unter den bekannten Kandidaten zu identifizieren und in die Testphase zu geben. Oder sie suchen mit Hochdruck neue Wirkstoffe unter Einsatz modernster KI.

Handlungsfelder

Europäischer Gesundheitssektor: Viele der in China eingesetzten KI-unterstützten Aktionen hätten auch in Italien, Spanien und anderen Regionen sehr geholfen. Auch wenn Deutschland hofft, hier aufgrund der Vorwarnungen mit einem blauen Auge davon zu kommen, sollten sich staatliche Stellen fragen, ob wir nicht durch einen innovativeren Einsatz von KI an Schnelligkeit, Skalierbarkeit und Kosteneffizienz gewinnen müssten – alles wichtige Ziele auch jenseits von Pandemien.

Europäische Kommission: Bisher beschränken sich die konkreten Ergebnisse der europäischen KI-Initiative weitgehend auf ethische Grundsätze und Regularien – der vermeintliche ‘Schutz der Bürger’ geht vor Innovation. Bei allem Respekt für die Arbeit der Kommission, muss man hier Fragen zur Balance zulassen:

  • Können wir es uns leisten, KI-Werkzeuge nicht zur Anwendung zu bringen? Wo ist das kollektive Wohl wichtiger als individuelle Ängste?
  • Sind wir hierdurch nicht in Deutschland und Europa auf dem Weg zu einer KI-Kolonie – und verlieren damit jegliche Möglichkeit zur Gestaltung der Entwicklung?
  • Ist nicht eine entschlossene Unterstützung der Multiplikatoren von angewandter KI geboten, ergänzt durch staatliche Aufträge an innovative KI-Start-ups und Zugang zu Massendaten?

Unternehmen: Jedes einzelne Unternehmen sollte sich obige Erfahrungen zu Herzen nehmen und prüfen, ob es durch KI-Applikationen in Angeboten und Prozessen schon entscheidend an Schnelligkeit, Effektivität und Reichweite gewonnen hat. Ansonsten gilt es, schnell aufzurüsten.

Maschinen statt Menschen

Einsatzfelder wie Telemedizin haben ja nicht nur den Vorteil viel besser zu skalieren, sondern auch ohne physischen Kontakt zu auszukommen – in der Corona-Krise unschätzbar. Man denke nur an den italienischen Arzt, der eine Hundertschaft von Patienten infizierte, oder französische und chinesische Ärzte, die an den Folgen einer Covid-19-Übertragung durch Patienten starben. Wie die South China Morning Post berichtete, kamen im Land auch die ersten autonomen Systeme und Roboter zum Einsatz, um Isolierstationen zu desinfizieren, sowie Essen und Medikamente zu liefern. Auch die manchmal kontrovers diskutierten Pflegeroboter in Japan erfreuen sich dieser Tage sicher einer ungewohnten Beliebtheit.

In anderen Bereichen konnten Menschen das schiere Volumen nicht mehr bewältigen. So befragte Baidu auch per Robo-Anruf-Plattform in über 3 Millionen Anrufen (1.500 Anrufe pro Sekunde) Personen zu freiwilligen Reise- und Kontaktinformationen.

Auch in nur mittelbar von der Krise betroffenen Firmen muss KI einspringen: Facebook hat bekanntlich Ende Februar als eine der ersten Firmen auf Covid-19 reagiert und seine 45.000 Mitarbeiter von zu Hause arbeiten lassen. Alle Mitarbeiter? Nun ja, 15.000 Kontraktoren mussten in den Gebäuden weltweit ausharren: Sie identifizieren und entfernen ‘unzulässige Inhalte’ (meist Sex und Gewalt, aber auch ‘Corona Fake News’). Da diese Personen mit hochsensiblen Nutzerdaten arbeiten, müssen sie hinter der Firewall sitzen. Erst nach 4 weiteren Wochen, am 24. März, wurde auch diese Gruppe angesichts der anschwellenden Krise nach Hause geschickt – weiterhin bezahlt, obgleich sie nicht mehr arbeiten können. Das Gros der Arbeit muss nun KI übernehmen. Auch wenn bekannt ist, dass diese KI-Systeme noch gelegentlich überfordert sind, ist das Volumen nicht mehr anders zu bewältigen. Ein paar KI-Fehler sind offenbar immer noch besser als völlige Passivität. Es wird ein ungeplanter gigantischer Stresstest für die Algorithmen – auch bei Google und anderen, die mit ähnlichen Problemen kämpfen.

Es gibt viele weitere Beispiele, wie in der Krise digitale, KI-getriebene Services zunehmen und auf die Probe gestellt werden. Vielleicht etwas unerwartet ist der Einsatz von KI-basierten Recruiting-Tools in die Höhe geschossen: Curious Thing, Talview, Knckri, Eightfold, Ziprecruiter und mehr berichten von steil steigenden Umsätzen. Nun gilt Corona ja nicht gerade als Quelle eines neuen Jobwunders. Andererseits besteht nicht überall Einstellungsstopp – Amazon allein stellt beispielsweise (temporär) 100.000 Mitarbeiter ein und heißt gerade Personen aus der stark getroffenen Touristik-Branche willkommen. Kein Unternehmen riskiert derzeit jedoch umfangreiche persönliche Interview-Prozesse, und gerade beim Erst-Screening und der Terminvereinbarung im digitalen Prozess ist offenbar maschinelle Intelligenz willkommen.

Handlungsfelder

Unternehmen: Auch außerhalb der Corona-Krise gibt es viele Einsatzfelder, die für Menschen sehr gefährlich sind (nicht nur im Bergbau und Öl&Gas), es an Fachkräften mangelt (wie in der Krankenpflege) oder die bei extrem knappen Margen gar nicht oder nur zu niedrigen Löhnen von Menschen wahrgenommen werden können (wie Call Center). Hierbei kommt es oft zu Leistungseinbußen oder langen Wartezeiten. Man könnte bei vielen – zumindest als Back-up Option -KI-basierte Systeme zum Einsatz bringen, und schon bald könnten diese manche Aufgaben möglicherweise auch komplett übernehmen.

Corona-Krise als Black-Swan Stress-Test

Noch auf einem ganz anderen Feld werden derzeit experimentelle Daten im Einsatz von KI gesammelt. An vielen Stellen dieser Welt arbeiten KI-Systeme teilautonom und versuchen sich dynamisch an neue Entwicklungen anzupassen. Manche werden von Corona fundamental auf ihre Robustheit getestet: Wohl niemand, zumindest außerhalb der WHO und vereinzelter Krisenstäbe, hat so ein Szenario vorab trainiert. Man muss sehen, wie solche KI-Systeme auf die ‘Black Swan’-Ereignisse reagieren. Voraussichtlich wird sich hier die Spreu vom Weizen im Hinblick auf KI-Reife trennen.

Was tut man als Anwender eines KI-Systems beim Eintritt solch unvorhergesehener Ereignisse? Ein Reflex ist oft, wie im Flugzeug-Notfall, den Autopiloten abzuschalten und manuell zu übernehmen. Aber nur wenige haben, wie Piloten, eine Notfall Checkliste zur Hand und deren Einsatz umfangreich trainiert. Im schlimmsten Fall fällt man von datenbasierten Entscheidungen auf die Bauchentscheidungen der HIPPOs (HIghest Paid Person in the Office) zurück – kaum ein Erfolgsrezept. Besser vorbereitete Unternehmen haben eine Tool- und Prozesslandschaft, um den Menschen (als ‘human-in-the-loop’) zu unterstützen, effektiv und schnell bei KI einzugreifen.

In manchen Umgebungen wird das nicht ganz einfach. Finanzmärkte sind so ein Beispiel. Man kann Transaktionen auf manuell schalten, aber nur unter Einbuße mehrerer Größenordnungen an Geschwindigkeit und Komplexitätsbeherrschung – was in einem stark fluktuierenden Markt einem Todesurteil gleichkommen kann. Nach der Krise wird hier viel analysiert und gelernt werden, insbesondere da einzelne Investment-Banken und Fonds gegen den Trend hervorragende Trading-Geschäfte zu machen scheinen.

Viele Unternehmen werden derzeit auch KI-basierten Marktprognosen wenig Vertrauen schenken. Nun kann man KI sehr unterschiedlich gut bauen – es gibt eben hohe und niedrige Intelligenz. Moderne ‘adversarial’ Methoden setzen oft maschinelle Gegenspieler ein, welche ihrerseits künstliche Intelligenz nutzen, um das System vor Eintritt des realen Ernstfalles robust gegen extreme Ereignisse außerhalb der Trainingsdaten zu machen. Die Mindestanforderung sollte sein, dass Systeme bei Wiederaufnahme der wirtschaftlichen Aktivität erneut voll einsatzfähig sind und nicht so statisch angelegt waren, dass sie von Grund auf neu trainiert werden müssen. Auch hier wird im Rückspiegel der Krise der KI-Reifegrad von Firmen sichtbar.

Interessanterweise hat DARPA, die US Agentur, welche vielen Sprunginnovationen den entscheidenden Impuls gegeben hat, schon im letzten Jahr einen neuen Wettbewerb ausgerufen: SAIL-ON (Science of Artificial Intelligence and Learning for Open-world Novelty). Es soll die Forschung und Entwicklung von wissenschaftlichen Grundlagen, Ingenieurs-Techniken und Algorithmen für KI-Systeme fördern, damit sich diese in hoch-dynamischen Situationen zurechtfinden. Dabei hatte man KI-Einsätze in Kriegssituationen im Kopf. Aber es wäre nicht das erste Mal, dass der wesentliche Beitrag die Anwendung in der – heute ja kaum weniger dynamischen – Zivilgesellschaft liegt.

Handlungsfelder

Unternehmen müssen lernen, robuste State-of-the-Art KI Systeme zu bauen bzw. zu nutzen und deren Stärken und Schwächen zu erkennen. Für das Management der Schwächen sollten dann effektive Werkzeuge zum Einsatz kommen – und sei es zur Unterstützung des ‘Human-in-the-Loop’.

Deutschland sollte seine eigene Agentur für Sprunginnovation deutlich schneller und autonomer hochfahren, und die KI Themen müssen ein zentraler Fokus werden.

Der Weg nach vorn

Die Corona-Krise zeigt auf, wie eine professionelle Anwendung von KI schon heute zu kritischen systemischen Vorteilen führt – mit China als Paradebeispiel. Trotzdem handelt es sich hier um Frühphasenentwicklungen mit Mängeln- vergleichbar mit dem Einsatz die Luftwaffe im ersten Weltkrieg.

Der darauf folgende Wendepunkt und Siegeszug der Luftfahrt steht jetzt möglicherweise auch bei der Nutzung von KI bevor. Chinesische und US Tech Player haben die Erfahrungen so hautnah gemacht, dass sie ihre Anstrengungen sicher verdoppeln werden. Wir erwarten, dass auch darüber hinaus die Adoptionsgeschwindigkeit und Qualität der KI-Anwendungen in einer Post-Corona Welt auf Basis der Erfahrungen noch einmal deutlich in die Höhe schießen.

Deutschland und Europa stehen derzeit sicher nicht in der ersten Reihe. Aber jede Krise ist auch eine Chance: Gerade die Pause vieler Routinearbeiten hierzulande kann für die breite Schulung der Mitarbeiter in KI genutzt werden, sowie für die Neu-Planung einer künftigen KI-Strategie. Es geht hier nicht nur um Prozessoptimierungen, sondern auch um neue Geschäftsmodelle und oft entscheidende Wettbewerbsvorteile. In der Post-Corona Welt werden viele Karten neu verteilt. Es bleibt zu hoffen, dass vom Gesundheitssystem bis hin zu industriellen Anwendungen die Lektionen der Krise auch hierzulande dem breiten und intelligenten Umgang mit KI einen entscheidenden Impuls geben.

Die Autoren dieses Artikels